MUSICA SACRA MELLICENSIS
von Prof. Adolf Trittinger
Aus welcher Weltrichtung immer der moderne Wanderer sich dem Melker Klosterbau nähert, sein Blick bleibt überrascht und gebannt an einer Erscheinung haften, einem einmaligen Ereignis vollkommener Synthese von Kunst und Natur Was soll er mehr bewundern? Die geniale Geschlossenheit, eine meisterliche Idee Gestalt werden zu lassen zu einem Gesamtkunstwerk voll dramatischen Affekts seiner barocken Architektur oder die zu Stein gewordene Musik in lyrisch- anmutiger Landschaft. Doch nicht als Symbol profaner Kraft, des Reichtums und irdischer Macht, sondern als Denkmal benediktinischen Mönchstums im Abendland weist es zurück zu seinem Ursprung, wie die Giebelinschrift besagt: ”Absit gloriari, nisi in Cruce!”
Sein Ausgang, seine Vollendung leuchtet vom Zentrum dieses Bauwerkes, von der Krone des Hochaltars herab: “Non coronabitur, nisi legitime certaverit!”
So klingt das Hauptthema im Konzert der Künste in diesem Heiligtum.
Es sei versucht, hier einer der maßgeblichsten Stimmen dieses Konzertes, der Musica Sacra stärkere Akzente zu verleihen. Ihre Anfänge reichen in die Frühzeit klösterlichen Lebens im österreichischen Raum zurück. Wenn Leopold II. im Jahre 1089 Mönche aus dem Kloster Lambach, einer Gründung
von Münster Schwarzach am Main, nach Melk berief, diese wiederum ihrer Ordensregel nach lothringischer Tradition folgten, kann daraus geschlossen werden, dass der liturgische Gesang in der Überlieferung aus Benevent, Gorze bei Metz, und schließlich um 1150 nach der Ordensreform von
Hiesau und Cluny gepflegt wurde.
Durch eine Konföderationsurkunde aus Bamberg (1160) ist der Bestand der Klosterschule erstmalig verbürgt, die den Mitgliedern der Schola cantorum die gesangliche Ausbildung vermittelte, für Erziehung und Unterricht zu sorgen hatte und somit den Nachwuchs an Sängern sicherstellte. Reges
musikalisches Leben herrschte im Kloster, Schüler und Mönche übten jede Art edler Musik. Eine Reihe von Handschriften aus dem 10. bis 14. Jh., in denen Messe- und Offiziumsgesänge in Neumen- oder Notenschrift zusammengefaßt und durch theoretische Abhandlungen und Traktate begründet
werden, gestatten lehrreiche Einblicke in die damalige Musikübung und Liturgie. Daß durch die Reformbewegungen auch ortsfremde gregorianische Dialekte im süddeutschen Raum und auch in Melk Eingang fanden, kann an Sequenzen, Tropenmanieren, Tonarien und Reimoffizien beobachtet
werden. Erkennen wir doch einerseits an dem Bestreben der Lateiner, die öst1ichen Melismen zu umgehen, in der syllabischen Melodik der Sequenzen und Tropen unschwer das Eindringen profanen Liedgutes in die sakrale Sphäre, andererseits die Befruchtung des deutschen Kirchenliedes durch
eben diese gregorianischen Formen. Die Brandkatastrophe des Jahres 1297 legte das Kloster in Schutt und Asche, die wertvollsten Dokumente der gregorianischen Hochblüte wurden ein Raub der Flammen. Nicht mehr aus dieser Zeit, sondern aus der Epoche des beginnenden Zerfalles der alten
Chorkunst ist uns ein Reimoffizium zu Ehren des alten Landespatrons, des hl. Koloman, erhalten, dessen Entstehung im ausgehenden 13. Jh. Angesetzt werden kann.
Eine starke Welle liturgischer Erneuerung ging von der ,,Melker Reform" aus, die sich über ganz Süd- und Mitteldeutschland ausbreitete und auch auf andere Orte übergriff (8 Melker M6nche wurden damals zu Äbten in anderen Klöstern erhoben!). Ab 1450 begegnen dem Forscher in Handschriften und Drucken vor allem in österreichischen, alemannischen, bayrischen und fränkischen Klöstern wertvolle Quellen der Melker Benediktinerliturgie, die am Ursprungsorte verschollen sind.
Noch harrten die musikgeschichtlichen Ergebnisse dieser religiösen Reformbewegung im österreichischen Raum einer erschöpfenden Auswertung. Ein typisches Denkmal dieser geistigen Erneuerung ist uns in der Melker Handschrift Cod. 399, enthaltend Messe und Offizium zu Ehren des hl. Leopold, erhalten. Sowohl der Text als auch die Melodie des Offiziums und der Messe – es handelt sich um Melodien bester Tradition – sind hier im Stift, am Geburtsort des Heiligen, entstanden. Die Autoren sind unzweifelhaft Melker Mönche. Eine weite Verbreitung in konföderierten Klöstern ist unschwer nachzuweisen. Das Messformular wurde 1487 vom Passauer Bischof approbiert und für die Diözese als verbindlich erklärt.
Über die allerersten Anfänge der Mehrstimmigkeit und ihrer Auswirkung im Stifte, wie über die Organum- und Conductusepoche der Notre-Dame-Schule und ihre Weiterentwicklung in das 14. Jh. Hinein, fehlt uns jede genauere Nachricht. Allerdings ruht das Schwergewicht der Kunst des großen
Machaut und seiner Zeitgenossen vornehmlich auf profanem Gebiet. Zudem ist die Einstellung des päpstlichen Hofes zur Mehrstimmigkeit innerhalb der Liturgie alles eher als freundlich.
Schon der Humanismus deutscher Prägung, mehr noch die in der Folge anbrechende Reformation erschütterte zunehmend das klösterliche Leben des Donaustiftes. Und gerade diese zwielichtige Zeit beschert uns interessante Zeugnisse blühender liturgischen Musiklebens. Wohl treten nun an Stelle
der musizierenden Mönche weltliche Berufsmusiker , aber die Intensität der kirchenmusikalischen Produktion lässt kein Absinken erkennen. Im Gegenteil, die Äbte Urban Pernatz und Kaspar Hofmann (1564-1623) vergrößern den Figuralchor auf sechs Choralisten (“Coralles”, auch Adstanten genannt), zehn bis zwölf Sängerknaben besetzten den Sopranpart, für den Alt wurden zumeist Tenöre verwendet. Ein selten schönes Chorbuch, dessen Einband alttestamentliche Bilder in Lederpressung zeigt, enthält Messen von Lassus, Florius, Scandellus und Hoyoul in prächtiger Handschrift. Während der Regierungszeit der vorhin erwähnten Äbte treffen in Melk Komponisten von europäischem Rang, gefördert von kunstsinnigen Mäzenen, zeitlich zusammen. Abgesehen vom damaligen Hochstand der Kantorei – sie wird 1565 von Maximilian II. zur künstlerischen Mitwirkung beim Augsburger Reichstag herangezogen – arbeiteten zur selben Zeit (zwischen 1565 und 1570) Jacobus Gallus und Lambert de Sayve im selben Kloster zusammen mit Kapitularen von hoher musikalischer Intelligenz. Sie sind einander in aufrichtiger Freundschaft zugetan, was aus den Dedikationstexten der Messenbände hervorgeht. Der bedeutendste der damaligen Melker Professen war ohne Zweifel Prior Johannes Spindler, der sowohl zuerst als Abt von Garsten dort eine kirchenmusikalische Hochzeit inspirierte, mehr noch aber als Abt von Kremsmünster dieser Kunst nicht nur seine besondere Fürsorge zuwendete, sondern sie wahrscheinlich selbst ausübte. Einem anderen Melker Benediktiner, Johannes Rueff, später Abt von Heiligenkreuz, widmete Gallus den
vierten Band seiner Messen. In der Vorrede an den Empfänger erwähnt er die schöne Zeit der Zusammenarbeit in Melk. Eine der darin enthaltenen Parodiemessen ist über das Volkslied “Die Bauern von St. Pölten “ gearbeitet. Über die künstlerische Bedeutung des Jacobus Gallus gibt jede
Musikgeschichte von Rang hinreichend Aufschluß. Sein großes Motettenwerk “Opus musicum” wird dem “Choralis Constantinus” von Isaak zur Seite gestellt. In seinen Messen und Motetten bringt er neben polyphoner Meisterschaft die Klangwirkung venezianischer Mehrchörigkeit in
Österreich zur schönsten Entfaltung.
Vom ausgehenden 16. Jahrhundert bis über das erste Viertel des 17. Jahrhunderts verlagert sich der Schwerpunkt der Kirchenmusik in die regenerierte Stiftsschule, deren weltliche Magistri, Kantoren und Organisten das künstlerische Niveau bestimmten. 1675 ließ Abt Valentin Embalner zur
Verschönerung des Gottesdienstes eine ansehnliche Orgel von 18 Registern erbauen. Daß dieses Jahrhundert von 1637 an bis weit in das folgende hinein eine glanzvolle musikalische Epoche im Stifte einleitete, ist nicht verwunderlich. Waren doch eine Reihe gekrönter Häupter der Domus Austriae fachlich durchgebildete und schaffende Musiker, denen ernstlich daran gelegen war, die Rekatholisierung durch weitschauende, eifernde Förderung auch in der Kirchenmusik zu verankern.
Noch während der Regierung Leopold I., einer der besten Musiker unter den römisch-deutschen Kaisern, bekam 1700 der junge, aus Scheibbs stammende Berthold Dietmayr die Führung des Stiftes in seine Hände. Die 39 Segensjahre seiner Amtszeit haben ihre Strahlungskraft auch in unsere Zeit herein nicht eingebüßt. Schon als Hofmeister des Melkerhofes in Wien ( 1697-1700) lernte Dietmar den damaligen Schottenorganisten Johann Josef Fux kennen. Aus dem Nachbarschaftsverhältnis entwickelte sich in späterer Zeit Freundschaft und Hochschätzung, besonders aber eine künstlerische Förderung von Seiten des Abtes. Die erste günstige Gelegenheit, dem Abt seine Zuneigung zu zeigen, bot sich dem Musiker Fux anläßlich des Benediktionsfestes des Abtes (1700 bei den Schotten). In dem großen Werk, das er bei diesem Anlaß zur Aufführung brachte, vermutet man die “Missa Sancti Spiritus”. Im darauffolgenden Jahr beauftragte ihn der Konvent mit der Komposition einer Laudatio für Abt Berthold in der Form eines lateinischen
Schuldramas. Von dem überdimensionalen Opus des Fux´schen Kirchenwerkes (allein 80 Messen und über 150 andere Kompositionen) besitzt das stiftliche Musikarchiv nur einen spärlichen Rest, der größte Teil scheint verlorengegangen zu sein. Müßten wir nicht auch den Verlust der großen
Sonnholzorgel beklagen? Ihre Planung und Bauführung lag in den Händen Abt Bertholds. Leider fiel dieses Kunstwerk dem Modernisierungswahn unseres Jahrhunderts zum Opfer, sonst wäre es auch der Musica Sacra gegönnt, das Lob dieses Kirchenfürsten bis in ferne Zeiten zu singen. Selbst
Zeitungsberichten aus Nord- und Mitteldeutschland ist zu entnehmen, welche Anziehungskraft das Instrument auf Organisten und Musikliebhaber im weiten Umkreis ausübte.
Dass J. J. Fux hochgeschätzt und kein seltener Gast im Stifte war, darf wohl angenommen werden, sicher wurde auch das Niveau der Kirchen – und Profanmusik durch diese Künstlerpesönlichkeit mitbestimmt. Die beauftragten Musiker des Hauses, teils Kapitulare, teils Laien, waren schaffend,
lehrend und leitend um beste Musikkultur bemüht, so P. Albert Baumgartner aus St. Leonhard am Forst (1677-1730), P. Marian Gürtler aus Blindenmarkt (1703-1766), sowie der in Melk geborene Anton Bachschmidt (1709-1780). Seinen guten Namen verdankt letzterer nicht nur gediegenen Musikwerken während der Melker Dienstzeit, sondern auch seiner späteren Tätigkeit als angesehener Hofkapellmeister in Würzburg.
Eine seit Jahrhunderten bestehende Verbindung mit dem kaiserlichen Hofe, die sich besonders unter Karl VI., Maria Theresia und Josef II. Enger gestaltete, leitete um 1750 wieder eine Epoche blühender Musikpflege speziell der Kirchenmusik , ein. Die oftmalige Anwesenheit des Herrschers
und seines Hofstaates war für das Haus verpflichtend. Wir begegnen sowohl unter den Konventualen als auch unter den Laien in den folgenden Jahrzehnten Namen von schaffenden und reproduktiven Musikern, die der österreichischen Musikgeschichte zur Zierde gereichen. Nicht zuletzt ihre
persönliche Freundschaft mit den Wiener Großmeistern rückt das Stift und den Kulturstand seiner Kirchen- und Hausmusik sehr nahe an das damalige Zentrum Wien. Gleich der erste, Johann Georg Albrechtsberger (1736-1809), eröffnet ein bedeutsames Kapitel. Beginnend mit seiner Sängerknabenzeit (seine Abstammung aus der Pfarre Emmersdorf harrt noch einer einwandfreien Forschung), über die Studienjahre am Stiftsgymnasium und der Philosophie in Wien bis zum Organistenamt an der Stiftskirche (1760) empfing er eigentlich vom Hause jene geistige und künstlerische Mitgift, die ihn 1772 zum kaiserlichen Hoforganisten und 20 Jahre später zum Domkapellmeister bei St. Stephan aufrücken ließ. Den ausgezeichneten rgelimprovisator und in der Bachtradition aufgewachsenen Kontrapunktiker wählte Beethoven zu seinem Lehrer. Bei Mozart stand er in hoher Achtung, Haydn war ihm in echter Lebensfreundschaft zugetan (in einer Kanondedikation darf er sich “vetus et sincerus amicus” nennen). Er muß ein guter, edler Mensch und Künstler gewesen sein . Ihm wurde das seltene Glück zuteil, den Großen Wegbereiter sein und ihrer Hochschätzung sich erfreuen zu dürfen. Das Musikarchiv bewahrt einen Großteil seiner Kirchen- und Profanwerke, einige der originellsten erklingen an Hochfesten in der Stiftskirche.
Weniger erfolgreich als Komponist – seine autodidaktische Entwicklung mündet eher in eklektische Leistungen mit modischem Zeitgeschmack -, beachtlicher dagegen in theoretischenn und publizistischen Schriften tritt der Melker Profeß und geachtete Kommendatarabt Maximilian Stadler
(1748-1833) als “Abbé Stadler” vor die musikalische Öffentlichkeit; in Wien als Direktor der Gesellschaft der Musikfreunde. Weitere drei schließen diesen, um Melk sich gruppierenden Kreis:
Die Benediktiner P. Robert Kimmerling (1737-1799) und p. Marian Paradeiser (1747-1775). Der Name des Erstgenannten fehlt in keiner zeitgenössischen Enzyklopädie und Musikzeitschrift, immer steht er in Verbindung mit Joseph Haydn als dessen Schüler. Als Neffe des 1746-1762 regierenden Abtes Thomas Pauer scheint er sich dessen besonderen Wohlwollens erfreut zu haben; dieser war es auch, der die Verbindung mit Haydn hergestellt hatte. Nur eine geringer und unscheinbarer Rest seiner als umfangreich publizierten Kirchenwerke ist uns im Archiv erhalten und auch der spiegelt nur matten Abglanz vom Genius seines großen Lehrers. Kimmerlings jüngerer Konfrator und Schüler Marian Paradeiser dagegen überflügelte in nur 28 Lebensjahren hinsichtlich Reichhaltigkeit und Qualität seines Schaffens weit seine Melker Zeitgenossen. Bei Betrachtung seiner seiner Autographe ist man versucht, hinter dem Werk die Gestalt eines hochbegabten Frühvollendeten zu sehen, dessen innerer Auftrag neben der Kirchenmusik der Weiterentwicklung der Kammermusik vom Divertimento zum Streichquartett gilt. Sein Schicksal hieß ihn im Schatten stehen. Größere Hoffnungen nahm er mit in sein Grab.
Die Reihe der weltlichen Organisten, Kantoren und Schulrektoren des 18. Jahrhunderts erreichte mit Albrechtsberger ihren Höhepunkt, einen glänzenden Abschluß bildete sein Schüler, der 1737 in Pulkau geborene Franz Schneider. Ungewöhn1ich begabt und zielstrebig arbeitete er sich vom Schulgehilfen zum Stadtorganisten und schließlich 1766 zum Stiftsorganisten empor. empor. Seiner Improvisationskunst konnten sogar Fachleute wie Forkel und Abbé Vogler öffentliche Anerkennung nicht versagen. Ein zeitgenössischer Chronist berichtet, daß anläßlich der Inthronisationsfeier des Bischofs Kerens von St. Pö1ten (1785) der Beginn des Gottesdienstes fast um eine Stunde verzögert wurde. Mit einem großangelegten Präludium und einer kunstvollen Fuge seiner Improvisationskunst ließ Schneider den wartenden Zuhörern die Zeit vergessen. Sein kompositorisches Schaffen erstreckt sich ausschließlich auf die Kirchenmusik. Neben 52 Messen in verschiedener Besetzung verzeichnet der Archivkatalog rund 100 kleinere Werke in allen liturgischen Formen, alles in allem gute,-zeitsti1gebundene Gebrauchsmusik. In diesen letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts hat das Musikleben des Stiftes einen so hohen Stand der Produktivität erreicht, daß das folgende Jahrhundert noch lange davon zehren konnte. Die Voraussetzungen hiefür waren gegeben in einer guten monastischen Verfassung mit zielbewußter Menschenführung, in Erziehungsgrundsätzen, denen noch das klassische Bildungsideal zugrundeliegt mit einer zentral gelagerten Musikanschauung von hoher sittlicher Wertung bis zu religös-metaphysischer Einstellung der Musik in das Weltbild der Zeit. Eine dadurch befruchtete Musikpraxis zeigt das Bild einer musikalisch tätigen Gemeinschaft. Nicht wenige der Kapitularen beherrschen das Instrumentalspiel mit einer über dem land1äufigen Dilettantismus stehenden technischen Fertigkeit, wie aus ihren Musikaliensamm1ungen hervorgeht. Zusammen mit begabten Studenten und ,,Domestiken" (Musikkundige wurden bevorzugt eingestel1t) bildeten sie einen ansehnlichen, leistungsfähigen Klangkörper, der tatsächlich befähigt war, die im Archiv lückenlos gesammelten klassischen Werke der Kirchenmusik einwandfrei zu reproduzieren. Die im Rationalistischen gegründete Gottesdienstgestaltung des 18. Jahrhunderts verlegte den Schwerpunkt in eine Kirchenmusik mit konzertanten Formen. Eine rückläufige romantische Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts neigte mehr den historischen Formen zu, Reformbestrebungen erinnerten sich
wieder der Gregorianik und belebten die altklassische Polyphonie. Antiquierte Stilmittel wurden neugestaltet, ein erstarrter Formalismus lähmte das freie Schaffen und bewirkte ein Absinken in Äußer1ichkeiten: Die Jahrzehnte des Cäcilianismus drückten auch der stiftlichen Kirchenmusik ihr unverkennbares Zeichen auf.
Immerhin waren zu Beginn unseres Jahrhunderts die Kapitularen Ambros Exler und Kajetan Höller neben ihrer musikerzieherischen Tätigkeit um die bestmögliche Erhaltung der Tradition bemüht, pflegten den gregorianischen Gesang und verhinderten eine Unterbrechung der benediktinischen Choralüberlieferung.
Die Kirchenmusik ist zweckgebundene Kunst, sie ist abhängig von den jeweiligen liturgischen Vorschriften und ist dem Zeitwandel der Gestaltungsformen unterworfen. Ihr geistiges Verhältnis zum gregorianischen Choral aber ist und bleibt zu allen Zeiten das untrügliche Zeichen ihrer Wertbeständigkeit. Der Choral stammt vom Geiste und ist zeitlos. Im Sinne des Opus Dei der Benediktiner ist die Pflege der Musik in Messe und Offizium ein vordringlicher Auftrag der Ordensregel.
Den Schwerpunkt des Musiklebens in der Stiftskirche bildet das ganze Kirchenjahr hindurch der Choral, in der Hauptsache das Proprium betreffend. Die Ordinariumsgesänge aller Epochen und Stilarten werden in verschiedenen Besetzungen musiziert und bilden von den Anfängen der Polyphonie bis zum zeitgenössischen Schaffen ein wechselvolles Bild aller ihrer Ausdrucksformen. Nach Überwindung geistiger und materieller Kriegsfolgen übertrug Abt Maurus dem Verfasser mit dem Amte eines Stiftlichen Musikdirektors die Verpflichtung, die fast 900jährige musikalische Kultur des Klosters wieder zur Entfaltung zu bringen. In harmonischer Zusammenarbeit, eines Sinnes mit dem an der Akademie Mozarteum ausgebildeten Stiftsorganisten P. Bruno Brandstetter, werden die Probleme der Chorerziehung, der Aufführungspraxis und der technischen Organisation ohne Schwierigkeiten gelöst. Anknüpfend an die im 18. Jahrhundert im Stift geübte, intensive Pflege der großräumigen, außerliturgischen Chormusik hat die durch ein Jahrzehnt bestehende Aufführungsreihe unter dem Titel ,,Melker Oratorium" als österreichische Besonderheit in der musikalischen Öffentlichkeit der Gegenwart entsprechende Beachtung gefunden.
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Quelle: aus "Singende Kirche" Heft 4, Juni - September 1966