Die musikhistorische Bedeutung des Stiftes Melk
im österreichischen Musikschaffen
Mit freundlicher Erlaubnis des Verlages (Bärenreiter Kassel-Basel-LondonNew York) stellt uns Prof. Trittinger als
Mitarbeiter der Enzyklopädie "Die Musik in Geschichte und Gegenwart" nachstehende Abhandlung zur Verfügung.
Die Direktion des Stiftsgymnasiums
Aus der ursprünglich babenbergischen Pfalz und Chorherrenkanonie Medelikke (985) ließ der Ostmarkgraf Leopold II.1089 eine Klosterstiftung erstehen, in die er Benediktinermönche aus Lambach, einem Tochterkloster von Münsterschwarzach, berief. Schon 1200 ist die Existenz der Klosterschule bezeugt, deren Musikpflege dem Gottesdienst diente und den Sängernachwuchs zu sichern hatte. Die spärlich vorhandenen Choralhandschriften dürften dem lokalen Scriptorium entstammen. In dem frühen Minnesänger Heinrich von Melk, der als adeliger Konverse im Kloster lebte und hier um 1160 seine Mahnung an den Tod verfaßte, rühmt die mittelhochdeutsche Literatur den ersten deutschen Satiriker. Zu den frühesten Denkmälern außerliturgischer Musik zählt das Melker Marienlied (1125). Am Rande des Manuskripts stehende Neumen wurden bis in die neuere Zeit mit der Dichtung irrtümlich in Zusammenhang gebracht. 1297 zerstörte ein Brand die romanische Kirche und das Kloster total samt der Bibliothek, ihren musikalischen Manuskripten und Traktaten. Weniger von Kunst und Wissenschaft, um so ausgiebiger von politischen und wirtschaftlichen Katastrophen berichten die Melker Annalen .(ab 1123; wertvolle Quellen zur Geschichte des Mittelalters) im 14. Jahrhundert. Desto erfreulicher reiht sich das folgende Jahrhundert mit Höchstleistungen geistigen Lebens in die Stiftsgeschichte ein. Von hier nahm die unter dem Namen "Melker Reform" bekannte klösterliche Erneuerungsbewegung ihren Ausgang und breitete sich über den größten Teil Deutschlands aus. Ein spezifisches Geistesprodukt dieser Blütezeit ist der Codex 937 mit dem Melker Offizium zu Ehren des hl. Leopold. Der Verehrung des älteren Hauspatrones, des hl. Koloman, ist ein Reimoffizium gewidmet, dessen melodische Eigenheiten (Größe der Intervalle, des Ambitus, Außerachtlassung des klassischen Choralstils) seine Entstehung um die Wende des 13. zum I4. Jahrhunderts vermuten lassen. Eine der fruchtbarsten Epochen in der Musikgeschichte des Hauses fällt in die Regierungszeit der Äbte Urban I. Perntaz und Kaspar Hofmann (1564 bis 1623). Obwohl die vordringende, vor allem die Donauklöster erfassende Reformation den Verfall der inneren Organisation und eine empfindliche Verringerung des Personalstandes verursachte, blühte das Musikleben sichtlich auf. 1566 betrug die Zahl der weltlichen Choralisten ("Coralles") sechs mit einem Cantor an der Spitze. Ergänzt durch die entsprechende Anzahl von Sängerknaben ergibt dies einen ansehnlichen Klangkörper.
Ein sorgfältig geschriebenes Chorbuch von 1577 mit Messen von Lasso, Florius, Scandellus und Hoyoul erhärtet die vorstehenden Angaben. Welch hervorragenden Ruf die um 1500 errichtete Kantorei genoß, beweist ihre mehrmalige Belobung und persönliche Förderung durch Maximilian II.; u. a. gewährte er den Sängern, die 1565 ,,zum Reichstag von Augspurg zogen", ein ansehnliches Geldgeschenk (lt. Raittung Abbt Urbans zu Melckh). Dieselbe Jahresrechnung weist Ausgaben aus an ,,Wo1ffen Reytmair, Org. des Gozhaus Melkh" sowie an den Cantor Georgius Zeruta. Die Aufzeichnungen des Vorjahres verbuchen die Besoldung an den Cantor Hieronimus de Laj (?), die des Jahres 1566 an Johannes Auer. Der hohe Stand der Musikpflege dieser Epoche räumte dem Hause eine Vorrangstellung in Osterreich ein. Anders wäre es kaum denkbar, daß Musiker von Rang wie Lambert de Sayve und Jacob Gallus höchstwahrscheinlich gleichzeitig) in der Melker Kantorei durch mehrere Jahre verdienstvoll wirkten. Ersterer wurde vom Kaiser selbst als Singmeister nach Melk beordert. Andernteils mußte mancher stimmbegabte Sänger den kaiser1ichen Wünschen entsprechend seinen Wirkungsort mit der Hofkapelle vertauschen. Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts stand nicht unter einem glücklichen Stern. Nach 1650 während der Regierung des Abtes Valentin Embalner folgte ein Aufschwung des künstlerischen und wissenschaftlichen Lebens. Zur Verschönerung des Gottesdienstes ließ er 1675 eine Orgel mit achtzehn Registern erbauen. Sein tüchtiger Cantor Augustin Kürzinger verließ 1666 das Stift, übernahm das Amt eines Kapellmeisters bei St. Stephan in Wien und starb 1678 (Epitaph neben der Domkanzel). Von seinem jüngeren Mitbruder P. Ulrich Nychter erschienen um 1693 bei F. Straub in Konstanz Kompositionen unter dem Namen seines Bruders Philipp. Die alte Stiftsschule erfuhr 1684 eine wissenschaftliche Rangerhöhung. In den Lehrplan des Quadriviums wurden höhere philologische .und theologische Disziplinen aufgenommen; in der Stiftskirche wurden Disputationen abgehalten. - Die erfo1greiche Gegenreformation und die siegreich beendeten Türkenkriege führten für das Stift ein goldenes Zeitalter herauf. Ein außerordentlich weitschauender und mutiger Bauherr, Abt Berthold von Dietmayr (1700-1739), fand seinen kongenialen Baumeister in Jakob Prandtauer. Mit dem heute weltbekannten Stiftsbau setzten sich beide ein unvergängliches Denkmal, in ihm fanden Wissenschaft, Kunst und Musik fast ein Jahrhundert hindurch die ebenbürtige Heimstätte. 1731 schloß Abt Berthold mit dem Wiener Orgelbauer Gottfried Sonnholz den Baukontrakt für eine neue Orgel; er forderte ein Werk bester Qualität in Materie und Ton. 28 St., davon 23 aus ,,gueten Zin", ergaben ein vorzügliches Instrument. Dieses Kunstwerk fiel dem Modernisierungswahn des frühen 20. Jahrhunderts zum Opfer. Eine stattliche Namensreihe von Melker Professen zeugt vom hochblühenden Geistesleben. Die enge Verbindung mit dem Kaiserhofe gereichte besonders der Musikpflege zu intensiver Förderung; persönliche Freundschaft der Wiener Großmeister mit Stiftsmitgliedern schuf eine befruchtende Epoche mit hervorragenden Namen, an der Spitze dem Stiftsorganisten J. G. Albrechtsberger. Von den Hauskomponisten verdient besondere Erwähnung Robert Kimmerling. Dank der Fürsorge
seines Onkels, Abt Thomas Pauer, genoß er den Unterricht Joseph Haydns. Weit überragt ihn sein Schüler, P. Marian Paradeiser (1747 bis 1775), dessen reichhaltiges Schaffenspensum die genialen Züge des Frühvollendeten trägt und im Musikarchiv der Auswertung harrt. Als Achtzehnjähriger komponierte er eine Kantate antikisierenden Inhalts (,,i. e. Carmen ad electionem Urbani Abb. in deputatum provinciae"), die sowoh1 in bezug auf thematische Arbeit, reife Beherrschung der vokalen und instrumentalen Ausdrucksmittel, als auch in der korrekturlosen Konzeption der Part. aufhorchen läßt. Eine fremde Hand ersetzt den fehlenden Namen des Autors, ,,die Musick ist von Carl Paradeiser, der Sechsten Schule beflissenen Alumnus a11da". Seine späteren Arbeiten erstrecken sich vornehmlich auf Kammermusik und Orchestermusik (Symphonien und Konzerte). Der zeitgenösische Chronist vermerkt, daß seine Quartette ,,selbst in der Kammer Kaiser Josephs gespie1t wurden". Ebenso begabt und originell als Komponist und Improvisator folgt Franz Schneider (1737-1812) seinem Lehrer Albrechtsberger im Organistenamt. Forkel und Abbé Vogler rühmen ihn als einen der besten seiner Zeit. Nicht zuletzt verdient der in Melk geborene Stiftpriester Maximilian Stadler (,,Abbé Stadler") Beachtung. Eng befreundet mit Haydn, Mozart und von Beethoven hoch geschätzt, stand er als Komponist und Direktor der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien in hohem Ansehen. Auch außerhalb des Stiftes wurde in Kirchen und Adelsschlössern eifrig musiziert, die von stiftlichen Berufsmusikern beeinflußten Dilettanten der Umgebung bildeten eine Art Melker Kreis. Einer dieser Adelssitze, das Schloß Weinzierl bei Wiese1burg des Freiherrn von Fürnberg, Sommeraufenthalt J. Haydns 1757-1759, gilt als die Geburtsstätte des Streichquartetts. Wahrschein1ich wirkte Albrechtsberger, damaliger Organist in Maria-Taferl, als Cellist bei den Uraufführungen der ,,Weinzier1er Quartette" mit. - Ein Hauptaugenmerk wurde seit je dem Musiktheater und der Pflege des Oratoriums zugewendet. Öfter vermerkt die Hausgeschichte Aufführungen dieser Art, vor allem in der Zeit der Jesuiten- und Barockopern. Reichhaltige Bestände des Musikarchivs bezeugen eine intensive Beschäftigung mit dem Singspiel und der Buffooper des 18. Jahrhunderts. 1736 notiert der Chronist das Bestehen eines ,,proportionierten Theatrum pro spectatoribus", 1782 wird es Komödienhaus genannt. In die Regierungszeit des Abtes Adrian P1iemel (1739-1745) fä11t die Anschaffung des fünfstimmigen Geläutes (gegossen von A. Klein, Wien), welches heute zu den schönsten Osterreichs zäh1t. Das Musikarchiv, entstanden aus Sammlungen einzelner Kapitularen, deren älteste in den Beginn des 18. Jahrhunderts reicht, ist gegenwärtig mit seinen 3000 katalogisierten Manuskripten und Erstdrucken eine Fundgrube für Forschung und Quellenstudium. Als Unikum enthält es das 1950 wiederentdeckte Violinkonzert A von J. Haydn, das ,,Melker Konzert". Die schweren Schäden der unglücklichen Franzosenkriege bedingten ein Absinken der hohen musikalischen Tradition auf mehrere Jahrzehnte. Aufzeichnungen aus der Feder des Abtes Anton Reyberger beklagen nach den Kriegsfolgen die schädigenden Eingriffe der Josephinischen Kirchenordnung; ihre Folgen waren das Ende der Musikpf1ege bei feierlichen Gottesdiensten, die Auflösung des Gymnasiums (1787) und das Ende des Alumnates (der früheren Kantorei, des späteren Sängerknabenkonvikts); ,,Stiftsgeistliche, Musiker und Musikfreunde wurden auf Pfarreien zerstreut und das Musikfach im Stifte lag brach". Unter seiner glücklichen Hand hob sich jedoch der Woh1stand, und tüchtige Musiker unter den Kapitularen, besonders Adam Krieg, Florian Maynoli und Franz Schneider (Sohn des vorgenannten Org.), führten eine neue musische Ära herbei. Sein Nachfo1ger Abt Marian Zwinger wendete der Orgel sein Augenmerk zu, ließ sie durch Joseph Gatto (Krems bzw. St. Pö1ten) 1824 instandsetzen und um sechs Register vergrößern. Seinen Musikdirektor Robert Stipa und Amand Polster ließ er seine besondere Förderung angedeihen, Zur Feier seiner Sekundiz am 6. Oktober 1835 hörte eine illustre Gesellschaft die konzertanten Musiken der beiden Konzertmeister der kaiser1ichen Hofoper, Joseph Mayseder und J. Merk, sowie die Uraufführung einer Jubelkantate von Ignaz Ritter von Seyfried. Mit den ersten Hofmusikern Wiens zählte er zu den Freunden und ständigen Gästen des Hauses. Eine Reihe von geistlichen oder weltlichen Musikdirektoren und Lehrern am Stiftsgymnasium bemühte sich auch im 19. Jahrhundert um die Erhaltung der Tradition. Unter ihnen ragen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kapitularen Ambros Ex1er (als Komponist von Kirchenmusik) und Kajetan Höller (als Pianist) hervor; letzterer war Theorieschüler Anton Bruckners. Nach den Rückschlägen, die das Stift nach dem zweiten Weltkrieg er1itten hat, wendet der derzeitige (1959) Abt, Maurus Höfenmayer, nach mühevoller
Konsolidierung der materiellen Grundlagen seine Sorge der Kultur- und Kunstpflege zu. Dem von ihm hauptamtlich beste11ten Musikdirektor übertrug er die Verpflichtung, den jahrhundertealten Rang des Stiftes im österreichischen Musikschaffen zu bewahren. Die seit zehn Jahren bestehende Aufführungsreihe großer geistlicher Chorwerke unter dem Titel ,,Melker Oratorium" in der Stiftskirche will an die ehrwürdige Tradition anknüpfen und die gemeinsam mit der Stadtverwaltung errichtete Institution zu einer österreichischen Besonderheit auf dem Gebiete der Musikpflege werden lassen.
Literatur: I. F. Keiblinger, Geschichte des Benediktinerstiftes Melk;
M. Dvorak, Österreichische Kunsttopographie III, Wien 1909;
W. Schier, Neuester Führer von Melk, 1956 (DTO VI, 1).
Die vorstehende Abhandlung erschien im 105. Jahresbericht des Öffentlichen Stiftsgymnasiums der Benediktiner zu Melk a. d. D. im Jahre 1963
Wiederveröffentlichung im Dezember 2002 von F. Drucker drucker@gmx.at